Eine Ausstellung – eine Lebensgeschichte

Veröffentlicht am: 18. Februar 2016

Sannerz - Der Titel der Ausstellung mag ein bisschen sperrig und abgehoben klingen, und doch trifft er ganz wesenhaft den Menschen Gerhard Scheidel, der in diesen Bildern seine Zwänge zum Ausdruck brachte“, hieß Ulrich Freund das Publikum im Haus des Gastes zur Vernissage der Ausstellung „Zwangsstrukturen, ins Bild gesetzt“ willkommen. Der Leiter des Ausstellungshauses Obertor bedankte sich zunächst bei Bürgermeisterin Helga Uhl, für die es die letzte Vernissage im städtischen Ausstellungshaus im Laufe ihrer Amtszeit war, für ihre Unterstützung bei allen Ausstellungen und Vorträgen. Verbunden mit der Hoffnung, dass sie auch weiterhin die Ausstellungen besuchen werde, überreichte ihr Freund einen Blumenstrauß und bedankte sich gemeinsam mit seinem Team Bernhard Hessberger, Eberhard Eisentraud sowie Lutz Dathe für die sehr gute Zusammenarbeit. Auf der Leinwand verstrahlte der „Vogelmensch“ seine magische Faszination. Einige Zuschauer starrten mit anziehender Bewunderung und wie gebannt auf die penibel-akkurat gezeichneten Strukturen. Bei anderen hingegen überwog die analytische Bewertung.

Doch die Wirkung der Bilder löste bei einigen Zuschauern auch Beklemmungen aus. „Gerhard Scheidel hat in diesen Bildern seine Zwänge geäußert und, wie er hoffte, auch veräußert“, eröffnete Freund den Blick auf die Entstehungsgeschichte der Bilder. Da sich Zwänge jedoch einnisten, sei es sehr schwer, sich von ihnen zu befreien. „Wer einem Zwang unterliegt, der will ihn loswerden, wegschicken, veräußern.“ Scheidel habe mit „Pen“ signiert, doch sein Spitzname war „Ticket“ – und der zeigt, worum es ging: das Ticket für den Trip. Eine wenig hilfreiche Medikation, denn Abhängigkeiten von Substanzen sind letztlich vergebliche Versuche, sich selbst zu heilen.

Dann rollte Ulrich Freund die seltsame Geschichte auf, wie er mit Gerhard Scheidel vor mehr als 40 Jahren zusammenkam, eine Zeit, in der junge Leute mit Drogen experimentierten. Ulrich Freunds Schwager gehörte zu der Gruppe der Konsumenten, und den brachte er in die einzige und völlig überlaufene Drogenklinik in Hamm (Westfalen). Später hat sich Freund auch in Bad Orb um ihn bemüht, bemerkte jedoch, dass Scheidel seine Befindlichkeit besser mit Tusche und Plakatkarton ausdrücken konnte. Und die Bilder wurden immer mehr zum Katalysator ihrer Worte und Dialoge, wenngleich die Verständigung zwischen Freund und Scheidel schwierig blieb. Es folgte das zweite Bild – zwei Kugelteile, die sich voneinander trennen wollen, aber nicht können. Die Spannung, die von dieser Darstellung ausging, war zu spüren und übertrug sich auf die Anwesenden im Raum.

„Es folgte ein Bild dem anderen, Scheidel kehrte nach Hamm zurück, wurde straffällig, landete in der JVA, und dort entstanden die meisten seiner Bilder. Zum inneren Zwang gesellte sich der äußere Zwang, der Freiheitsentzug“, erzählte Freund weiter vom Lauf der Dinge. Der Ausdruck wurde immer intensiver, den stacheligen Schmerz visualisierte Scheidel in einem Morgenstern, einer mittelalterlichen Waffe. Den farbenfrohen Tuschebildern folgten monochrome Graphit-Zeichnungen, doch allen ist eines gemeinsam: „Die Wucht dieser Bilder trifft den Betrachter so sehr, dass er irritiert den Blick abwendet, doch zugleich lässt die magische Faszination den Blick wieder zurückkehren“, fasste Freund zusammen.

Zum ersten Mal sind in Bad Orb nun alle 30 Bilder von Gerhard Scheidel zu sehen. Die jungen Menschen im Jugendhilfezentrum Don Bosco Sannerz haben sich auch mit seinen Bildern auseinandergesetzt. Sie haben mit Lutz Dathe an der konzeptionellen Gestaltung mitgewirkt und das Einrahmen und Aufhängen der Bilder übernommen. „Die Jugendlichen haben sich mit dem konkreten Projekt auf den Weg gemacht, die Bilder von Gerhard Scheidel für sich zu interpretieren“, sagte der Leiter der Einrichtung, Pater Vahlhaus. Es sei eine tolle Erfahrung und mal etwas anderes, die eigenen vier Wände zu verlassen, um den Horizont zu erweitern. Die beiden Jugendlichen Jonas und Noah aus der Einrichtung Don Bosco sprachen in der Vernissage über das Bild „Reise ins gelobte Land“. Jonas jedoch gab dem Bild den Namen „Der holprige Weg zurück“, weil darin sehr gut die Situation der Jugendlichen zu sehen sei. „Wenn ich das Bild ansehe, bemerke ich, dass die Sichtweise vieler Jungs aus der Gruppe manchmal so ist, als ob es eine JVA wäre, also eine Zwangsstruktur.“

Der lange gebrochene Weg, der schmale Holzsteg sei gefährlich, und der böse Bube möchte einen ins Verderben ziehen, wo der dunkle Abgrund droht, die Sucht. „Der Maler fühlte sich gefangen“, bemerkte Jonas, und das Bild spiegele die Situation der Wohngruppe. Er persönlich befinde sich bereits kurz vor dem Ziel im hellen Sonnenlicht und freue sich schon auf seine baldige Ausbildungszeit. Noah hingegen sagte, dass er nicht weiß, was aus ihm werden soll. „Jede Ausstellung, die Ulrich Freund organisiert hat, war etwas Besonderes, das sich von anderen abhebt“, bedankte sich Helga Uhl für das Engagement von Ulrich Freund rund um das Ausstellungshaus.

Sie wünschte weiterhin viele Unterstützer, viele Ideen und Kreativität bei Ausstellungen oder Vorträgen in dem ganz besonderen Ambiente des Hauses. „Druck ablassen mit Bildern, das zeugt von einem großen inneren Willen“, sagte Stadtverordnetenvorsteher Heinz Grüll in seinem Schlusswort, bevor sich alle ins Ausstellungshaus Obertor begaben.

Text/Foto: Mit freundlicher Genehmigung der Gelnhäuser Neue Zeitung; erschienen am 16.02.2016